ARYAS PRÜFUNG
Am Morgen seines dritten Tages in Tronjheim sprang Eragon frisch und voller Tatendrang aus dem Bett. Er befestigte Zar’roc am Gürtel und hängte sich den Bogen und den halb vollen Köcher über die Schulter. Nach einem gemächlichen Rundflug im Innern von Farthen Dûr traf er sich an einem der vier Haupttore von Tronjheim mit Orik. Eragon fragte ihn nach Nasuada.
»Ein ungewöhnliches Mädchen«, antwortete Orik, den Blick missbilligend auf Zar’roc gerichtet. »Sie ist ihrem Vater vollkommen ergeben und opfert ihm ihre ganze Zeit. Ich glaube, sie tut mehr für Ajihad, als ihm bewusst ist - sie hat schon ein paarmal seine Feinde überlistet, ohne ihm etwas von ihrer Rolle dabei zu verraten.«
»Wer ist ihre Mutter?«
»Das weiß ich nicht. Ajihad war allein, als er mit der kleinen Nasuada nach Farthen Dûr kam. Er hat nie erzählt, woher er und seine Tochter stammen.«
Dann ist sie also auch ohne Mutter aufgewachsen. Er schob den Gedanken beiseite. »Ich bin ein bisschen ruhelos. Es wird mir gut tun, meinen Körper wieder einmal zu gebrauchen. Wo soll diese Prüfung stattfinden, von der Ajihad sprach?«
Orik deutete ins Innere von Farthen Dûr. »Der Übungsplatz ist eine halbe Meile entfernt, aber man sieht ihn von hier aus nicht, weil er hinter Tronjheim liegt. Es ist ein großes Areal, auf dem sowohl Zwerge als auch Menschen sich im Kampf üben.«
Ich komme auch mit, verkündete Saphira.
Eragon teilte Orik Saphiras Entscheidung mit und der Zwerg zupfte an seinem Bart. »Das ist keine gute Idee. Es sind viele Leute dort; du wirst mit Sicherheit Aufsehen erregen.«
Saphira knurrte vernehmlich. Ich komme mit!, wiederholte sie, und damit war die Angelegenheit erledigt.
Wüstes Kampfgetöse drang vom Übungsplatz zu ihnen herüber: Das laute Klirren von aufeinander prallendem Metall, die dumpfen Schläge, mit denen sich die Pfeile in die ausgestopften Puppen bohrten, die ihnen als Ziel dienten, das Geklapper und Zerbersten der Holzknüppel und die Ausrufe der Männer, die sich in Schein-kämpfen miteinander maßen. Der Lärm war verwirrend und doch hatte jede einzelne Gruppe ihren eigenen Rhythmus und Klang.
Den Großteil des Feldes nahm eine Aufstellung von Fußsoldaten ein, die sich mit Schilden und Streitäxten abmühten, die fast so groß waren wie sie selbst. Sie übten als Gruppe in verschiedenen Formationen. Daneben kämpften hunderte von einzelnen Kriegern mit Schwertern, Keulen, Speeren, Knüppeln, Dreschflegeln und Schilden in allen Größen und Formen, und einer sogar, wie Eragon fest-stellte, mit einer Heugabel. Fast alle Kämpfer trugen Kettenhemd und Helm. Brustpanzer waren nicht so zahlreich vertreten. Es waren ebenso viele Zwerge wie Menschen da, wenngleich die beiden Gruppen weitgehend für sich blieben. Weiter hinten schoss eine lange Aufstellung von Bogenschützen unablässig auf Stroh-puppen aus grauem Sackleinen.
Bevor Eragon Gelegenheit hatte, sich zu fragen, was er wohl würde tun müssen, trat ein bärtiger Mann mit einer bis auf die Schultern reichenden Kettenhaube auf ihn zu. Ein derber Ochsenlederanzug, an dem noch Haarbüschel klebten, schützte den Rest seines Körpers. Quer über seinem Rücken hing ein riesiges Schwert, fast so groß wie Eragon. Er ließ rasch einen prüfenden Blick über den Jungen und Saphira hinweggleiten, als wolle er feststellen, wie gefährlich sie waren, dann sagte er mürrisch: »Knurla Orik, du warst zu lange fort. Es ist keiner mehr übrig, mit dem ich kämpfen kann.«
Orik lächelte. »Oeí, das liegt daran, dass du mit deinem Monsterschwert jeden grün und blau schlägst.«
»Jeden außer dir«, korrigierte ihn der andere.
»Das kommt daher, weil ich schneller bin als so ein Riese wie du.«
Der Mann sah wieder Eragon an. »Ich bin Fredric. Mir wurde gesagt, ich soll rausfinden, was du kannst. Wie stark bist du denn?«
»Stark genug«, antwortete Eragon. »Das muss ich auch sein, um mit magischen Kräften kämpfen zu können.«
Fredric schüttelte den Kopf, dass die Kettenhaube klirrte wie ein voller Geldsack. »Bei dem, was wir hier tun, hat Magie nichts zu suchen. Wenn du nicht in einem Heer gedient hast, bezweifle ich, dass du länger als ein paar Minuten durchhalten kannst. Was wir herausfinden wollen, ist, wie du dich in einer Schlacht schlägst, die sich stunden- oder gar wochenlang hinzieht, bei einer Belagerung etwa. Kannst du noch mit anderen Waffen umgehen außer mit Schwert und Bogen?«
Eragon überlegte. »Nur mit meinen Fäusten.«
»Gute Antwort!«, lachte Fredric. »So, wir fangen mit dem Bogen an und sehen, wie du dich schlägst. Später, wenn mehr Platz auf dem Feld ist, werden wir ... « Plötzlich verstummte er und blickte wütend an Eragon vorbei.
Die Zwillinge stolzierten auf sie zu, ihre kahlen Schädel wirkten bleich im Kontrast zu ihren purpurnen Gewändern. Orik murmelte etwas in der Zwergensprache und zog seine Streitaxt aus der Gürtelschlaufe. »Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt euch vom Übungsfeld fern halten«, sagte Fredric und trat drohend auf sie zu. Die beiden wirkten geradezu zerbrechlich vor seiner massigen Gestalt.
Sie sahen ihn arrogant an. »Ajihad hat uns befohlen, Eragons magische Fertigkeiten zu testen - und zwar bevor er vom stundenlangen Kämpfen völlig erschöpft ist.«
Fredric sah sie wütend an. »Warum müsst gerade ihr ihn testen?«
»Weil kein anderer stark genug ist«, höhnten die beiden. Saphira knurrte grollend und funkelte sie an. Rauch wallte aus ihren Nasenlöchern, doch die beiden beachteten sie gar nicht. »Komm mit«, befahlen sie Eragon und steuerten eine leere Ecke auf dem Feld an.
Achselzuckend folgte Eragon ihnen. Saphira blieb ihm dicht auf den Fersen. Hinter sich hörte er Fredric zu Orik sagen: »Wir müssen aufpassen, dass sie nicht zu weit gehen.«
»Ich weiß«, antwortete Orik leise, »aber ich kann mich nicht schon wieder einmischen. Hrothgar hat erklärt, beim nächsten Mal könne er mich nicht mehr schützen.«
Eragon rang mit seiner wachsenden Furcht. Die Zwillinge kannten wahrscheinlich mehr Techniken und Worte als er ... Trotzdem, er erinnerte sich daran, was Brom ihm einmal gesagt hatte: Drachenreiter verfügten über eine weitaus mächtigere Magie als gewöhnliche Menschen. Aber würde das ausreichen, um der vereinten Kraft der beiden standzuhalten?
Mach dir keine Sorgen, ich helfe dir, sagte Saphira. Wir sind ja auch zu zweit.
Er streichelte ihr zärtlich übers Bein, erleichtert über ihren Beistand. Die Zwillinge sahen Eragon an und fragten: »Und wie lautet deine Antwort?«
Ohne die verwirrten Mienen der anderen zu beachten, sagte er tonlos: »Nein.«
Scharfe Falten gruben sich in die Mundwinkel der beiden. Sie wandten sich ein Stück von Eragon ab, bückten sich und malten ein großes Pentagramm auf den Boden. Sie stellten sich in dessen Mitte und sagten schroff: »Wir fangen jetzt an. Du wirst versuchen, die Aufgaben zu lösen, die wir dir stellen ... Das ist alles.«
Einer der Zwillinge griff in die Tasche, holte einen faustgroßen Stein heraus und legte ihn auf den Boden. »Lass ihn auf Augenhöhe emporsteigen.«
Das ist leicht, sagte Eragon zu Saphira. »Stenr reisa!« Der Stein wackelte, dann erhob er sich gleichmäßig vom Boden. Bevor er eine Höhe von einem Fuß erreicht hatte, brachte ein unerwarteter Widerstand ihn in der Luft zum Stehen. Ein schadenfrohes Lächeln umspielte die Lippen der Zwillinge. Eragon starrte sie wütend an - sie versuchten, ihn zu behindern! Wenn er sich jetzt zu sehr er-schöpfte, würde ihm später die Kraft für die schwierigeren Aufgaben fehlen. Offenbar waren sie überzeugt, ihn mit vereinten Kräften rasch ermüden zu können.
Aber ich bin auch nicht allein, sagte sich Eragon. Saphira, jetzt! Ihr Geist verschmolz mit seinem und der Stein stieg mit einem Ruck auf Augenhöhe empor und kam zitternd zum Stehen. Die Augen der Zwillinge verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Sehr ... gut«, zischten sie. Fredric wirkte nervös angesichts der magischen Vorführung. »Jetzt beweg den Stein im Kreis.« Erneut musste Eragon gegen ihre Versuche, ihn zum Scheitern zu bringen, ankämpfen, und wieder - zu ihrem deutlich sichtbaren Ärger - hatte er Erfolg. Die Aufgaben wurden rasch komplexer und schwieriger, bis Eragon intensiv nachdenken musste, um die richtigen Worte zu finden. Und jedes Mal kämpften die Zwillinge erbittert gegen ihn, obwohl ihren Gesichtern die Anstrengung nicht anzusehen war.
Nur mit Saphiras Hilfe gelang es Eragon, sich zu behaupten. In einer Pause zwischen zwei Aufgaben fragte er sie: Warum machen sie noch weiter? Sie haben doch in meinem Geist gesehen, welche Fähigkeiten ich besitze. Sie neigte nachdenklich den Kopf. Weißt du, was?, sagte er entrüstet, als ihm die Erklärung einfiel. Sie nutzen die Gelegenheit, um herauszufinden, welche der ganz alten Worte ich kenne, und vielleicht wollen sie selbst ein paar neue lernen.
Dann sprich ganz leise, damit sie dich nicht verstehen, und benutze wenn möglich nur die einfachsten Wörter.
Fortan gebrauchte Eragon nur eine Hand voll der elementaren Grundbegriffe, um die Aufgaben zu bewältigen. Aber um mit ihnen dieselbe Wirkung zu erzielen wie mit einem langen Satz oder einem komplizierten Ausdruck, musste er seinen Einfallsreichtum bis an die Grenzen ausschöpfen. Als Belohnung sah er die Enttäuschung auf den Gesichtern der Zwillinge, während er sie ein ums andere Mal überlistete. Was sie auch versuchten, sie konnten ihn nicht dazu bringen, noch mehr Worte der alten Sprache zu benutzen.
Mehr als eine Stunde war vergangen, doch die Zwillinge machten keine Anstalten aufzuhören. Eragon schwitzte und hatte Durst, verkniff es sich aber, um eine Unterbrechung zu bitten - er würde so lange weitermachen, wie sie es verlangten. Die verschiedensten Aufgaben wurden ihm gestellt: Wasser aus dem Boden holen, Feuer entfachen, jemanden beschreiben, der sich an einem anderen Ort aufhielt, mit Steinen jonglieren, Leder härten, Gegenstände einfrieren, die Flugbahn eines Pfeiles verändern und Schürfwunden heilen. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis den Zwillingen die Ideen ausgingen.
Schließlich hoben sie die Hände und sagten: »Jetzt gibt es nur noch eines zu tun, eine ganz simple Aufgabe, die jeder kompetente Zauberkundige mühelos bewerkstelligen kann.« Einer der beiden zog einen Silberring vom Finger und reichte ihn Eragon. »Beschwöre die Essenz des Silbers herauf.«
Eragon starrte verwirrt auf den Ring. Was sollte er tun? Die Essenz des Silbers heraufbeschwören? Wie sollte das gehen? Saphira hatte keine Ahnung und die Zwillinge würden ihm dabei nicht helfen. Er kannte das Wort für Silber nicht, doch er wusste, dass es ein Teil von Argetlam sein musste. Verzweifelt kombinierte er das einzige Wort, das ihm passend erschien, ethgrí, was so viel hieß wie »heraufbeschwören«, mit Arget.
Er riss sich zusammen, konzentrierte alle Kraft, die er noch aufbringen konnte, und öffnete die Lippen, um die Wortkombination auszusprechen. Plötzlich erklang hinter ihm eine silberhelle, voll tönende Stimme.
»Hört auf!«
Das Wort ergoss sich wie kühles Wasser über Eragon - die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor, wie eine halb vergessene Melodie. Sein Nacken kribbelte. Er wandte sich langsam um.
Hinter ihnen stand Arya. Ein ledernes Stirnband bändigte ihr volles schwarzes Haar, das ihr in einer üppigen Kaskade über die Schultern herabwallte. Ihr schlankes Schwert hing an ihrer Hüfte, der Bogen auf ihrem Rücken. Einfaches schwarzes Leder umhüllte ihren wohlgeformten Körper, ein bescheidener Aufzug für ein so schönes Geschöpf. Sie war größer als die meisten Menschen und ihre Haltung war perfekt ausbalanciert und entspannt. Ihrem makellosen Gesicht sah man nicht mehr an, welch grausame Misshandlungen sie erlitten hatte.
Aryas funkelnde smaragdgrüne Augen durchbohrten die Zwillinge, die vor Schreck kreidebleich geworden waren. Sie trat mit lautlosen Schritten heran und sagte mit leiser, drohender Stimme: »Schämt euch! Schämt euch dafür, dass ihr von ihm etwas verlangt, das nur ein Meister vollbringen kann. Schämt euch, dass ihr solche Methoden gebraucht. Und schämt euch, dass ihr Ajihad vorgelogen habt, ihr würdet Eragons Fähigkeiten nicht kennen. Ihr wisst genau, was er kann. Und nun fort mit euch!« Arya zog zornig die Stirn kraus, wobei ihre schrägen Augenbrauen zwei Lichtblitzen gleich zu einem spitzen V zusammentrafen. Sie deutete auf den Ring in Eragons Hand. »Arget!«, rief sie mit donnernder Stimme.
Das Silber schimmerte auf und daneben materialisierte sich ein geisterhaftes Ebenbild des Ringes. Die beiden waren identisch, bis auf die Tatsache, dass die Erscheinung reiner aussah und zu glühen schien. Als die Zwillinge das sahen, fuhren sie auf den Absätzen herum und ergriffen mit wehenden Gewändern die Flucht. Das Ebenbild des Ringes verschwand aus Eragons Hand und zurück blieb nur das wirkliche Schmuckstück. Orik und Fredric starrten Arya entgeistert an. Saphira schaute neugierig.
Die Elfe ließ den Blick über die Menschen schweifen. Ihre schrägen Augen nahmen Eragon einen Moment lang ins Visier. Dann wandte sie sich um und begab sich in die Mitte des Übungsfeldes. Die Krieger hörten auf zu kämpfen und starrten ihr mit großen Augen nach. Nach wenigen Augenblicken herrschte auf dem ganzen Platz andächtige Stille.
Wie von einem unsichtbaren Bindfaden gezogen, folgte Eragon ihr. Saphira sagte etwas, aber er hörte gar nicht zu. Ein großer Kreis bildete sich um Arya. Den Blick nur auf Eragon gerichtet, rief sie aus: »Ich beanspruche das Recht, dich im Kampf zu prüfen. Zieh dein Schwert!«
Sie will sich mit mir schlagen!
Aber ich glaube nicht, dass sie dir wehtun will, entgegnete Saphira. Sie stupste ihn mit der Nase an. Geh und gib dein Bestes. Ich schaue euch zu.
Widerwillig trat Eragon vor. Er mochte nicht kämpfen, wenn er vom Gebrauch der Magie so müde war und wenn so viele Leute zu-sahen. Außerdem konnte Arya nach ihrer schweren Krankheit noch gar nicht wieder kampftüchtig sein. Es war schließlich erst zwei Tage her, dass man ihr Túnivors Nektar verabreicht hatte. Ich werde nicht so hart zuschlagen, damit ich sie nicht verletze, beschloss er.
In einem dichten Ring aus Kriegern standen sie sich gegenüber. Arya zog mit der linken Hand ihr Schwert. Die Waffe war schmaler als Eragons, aber genauso lang und scharf. Er zog Zar’roc aus der glänzenden Scheide und hielt die rote Klinge mit der Spitze nach unten an seiner Seite. Einen Moment lang standen sie reglos da, die Elfe und der Mensch, und fixierten einander. Plötzlich fiel Eragon ein, dass auf diese Weise viele seiner Kämpfe mit Brom begonnen hatten.
Vorsichtig trat er einen Schritt nach vorn. Mit einer blitzschnellen Bewegung sprang Arya auf ihn zu und zielte auf seine Rippen. Reflexartig parierte Eragon den Angriff und ihre Schwerter prallten in einem Funkenregen aufeinander. Zar’roc wurde zur Seite geschleudert, als wäre das Schwert so leicht wie eine Feder. Die Elfe nutzte seine Blöße jedoch nicht aus, sondern wirbelte mit durch die Luft peitschender Mähne nach rechts herum und griff ihn von dort aus an. Nur mit Mühe konnte er ihren Hieb abwehren und wich taumelnd zurück, verblüfft von ihrer Kraft und Schnelligkeit.
Mit einiger Verspätung fiel Eragon Broms Warnung ein, dass selbst die schwächsten Elfen mühelos einen Menschen überwältigen konnten. Er konnte Arya also gar nicht besiegen ... Sie griff erneut an, ließ die Klinge auf seinen Kopf zuschnellen. Er duckte sich unter der messerscharfen Schneide. Aber warum ... warum spielte sie dann mit ihm? Einige Sekunden lang war er zu sehr damit beschäftigt, ihre Angriffe zu parieren, aber dann wurde ihm klar, was sie bezweckte: Sie möchte herausfinden, wie gut ich den Schwertkampf beherrsche.
Nachdem er das begriffen hatte, begann er mit den kompliziertesten Schlagfolgen, die er kannte. Geschmeidig glitt er von einer Stellung in die andere, kombinierte und veränderte die Schläge auf jede nur erdenkliche Art, aber was immer er sich ausdachte, Aryas Schwert hielt ihn stets in Schach. Jeder seiner Bewegungen folgte sie mit müheloser Behändigkeit.
In einen fiebrigen Tanz versunken, waren ihre Körper gleichzeitig vereint und getrennt durch die aufblitzenden Klingen. Manchmal berührten sie sich fast, die straff gespannte Haut nur eine Haaresbreite voneinander entfernt, aber dann riss der Schwung sie wieder auseinander, und sie wichen für einen Augenblick zurück, nur um sich im nächsten Moment erneut zu nähern. Ihre geschmeidigen Körper verschmolzen wie verschlungene, vom Wind aufgewirbelte Rauchfahnen.
Eragon wusste nicht mehr, wie lange sie schon kämpften. Es waren zeitlose Augenblicke, in denen es nur Aktion und Reaktion gab. Zar’roc wurde allmählich bleischwer in seiner Hand; bei jedem Hieb brannte sein Arm schmerzhaft. Als er nach einer kurzen Atempause erneut auf sie zusprang, trat Arya geschmeidig zur Seite und schwenkte das Schwert mit übernatürlicher Schnelligkeit hinauf unter sein Kinn.
Eragon erstarrte, als das kühle Metall seine Haut berührte. Seine Muskeln zitterten vor Anstrengung. Benommen hörte er, wie Saphira leise aufseufzte und die Krieger um sie herum in tosenden Jubel ausbrachen. Arya ließ ihr Schwert sinken und schob es in die Scheide. »Du hast bestanden«, sagte sie durch den Lärm hindurch.
Erschöpft richtete er sich auf. Fredric stand jetzt neben ihm und klopfte ihm begeistert auf den Rücken. »Das war ja ein unglaublicher Kampf! Ich konnte euch beiden sogar ein paar neue Finten abschauen. Und die Elfe - unfassbar!«
Aber ich habe verloren, dachte er im Stillen. Lächelnd lobte Orik ihn für seine Leistung, aber Eragon hatte nur Augen für Arya, die allein und schweigend dastand. Sie deutete mit einem Finger kurz auf eine Anhöhe, eine Meile vom Übungsplatz entfernt, dann wandte sie sich um und ließ die drei stehen. Die Menge teilte sich vor ihr. Ehrfürchtiges Schweigen befiel die Menschen und Zwerge, als die Elfe zwischen ihnen hindurchging.
Eragon wandte sich an Orik. »Ich muss gehen. Ich kehre nachher zum Drachenhort zurück.« Schwungvoll schob er Zar’roc in die Scheide und schwang sich auf Saphiras Rücken. Sie flog quer über das Feld, das sich in ein Meer aus Gesichtern verwandelte, als alle zu ihr aufschauten.
Während sie auf die Anhöhe zuflogen, sah Eragon unter ihnen Arya mit langen, geschmeidigen Schritten laufen.
Du findest sie schön, stimmt’s?, bemerkte Saphira.
Ja, gab er zu und wurde rot.
Ihr Gesicht hat mehr Charakter als das der meisten Menschen, sagte sie. Aber es ist lang wie bei einem Pferd und außerdem ist sie viel zu dünn.
Eragon schaute Saphira verblüfft an. Du bist ja eifersüchtig!
Unsinn. Ich war noch nie eifersüchtig, sagte sie beleidigt.
Aber jetzt bist du’s, gib’s zu!, lachte er.
Sie klappte lautstark das Maul zu. Bin ich nicht! Er lächelte kopfschüttelnd, ließ ihr aber das letzte Wort. Sie landete mit einem harten Ruck auf der Anhöhe, sodass es ihn heftig durchschüttelte. Doch er sprang von ihr herab, ohne sich zu beschweren.
Arya war dicht hinter ihnen. Sie rannte schneller als jeder Läufer, den Eragon bisher gesehen hatte. Als sie den Kamm der Anhöhe erreichte, ging ihr Atem ruhig und gleichmäßig. Eragon, der plötzlich einen Kloß im Hals hatte, schlug die Augen nieder. Sie ging an ihm vorbei und sagte zu Saphira: »Skulblaka, eka celöbra ono un mulabra ono un onr Shur’tugal né haina. Atra nosu waíse Fricai.«
Die meisten Wörter kannte Eragon nicht, aber Saphira schien sie zu verstehen. Sie legte die Flügel an und betrachtete Arya neugierig. Dann nickte sie und ließ ein tiefes Summen hören. Arya lächelte. »Ich bin froh, dass du wieder gesund bist«, sagte Eragon. »Wir wussten nicht, ob du es noch schaffen würdest.«
»Deshalb bin ich gekommen«, sagte die Elfe. Ihre volle Stimme klang akzentuiert und fremdartig. Sie sprach deutlich, in einem leicht trillernden Tonfall, als wolle sie ein Lied anstimmen. »Ich stehe tief in deiner Schuld. Du hast mir das Leben gerettet. Das werde ich dir nie vergessen.«
»Ach, das ... das war doch nicht der Rede wert«, stammelte Eragon. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Verlegen wechselte er das Thema. »Wie bist du eigentlich nach Gil’ead geraten?«
Ein Schatten legte sich über Aryas schönes Gesicht. Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Wir müssen uns unterhalten.« Sie stiegen von der Anhöhe hinab und schlenderten in Richtung Tronjheim. Eragon wartete geduldig ab, dass Arya das Gespräch wieder aufnehmen würde. Saphira trottete stumm neben ihnen her. Schließlich hob Arya den Kopf und sagte mit der ihr eigenen Anmut: »Ajihad hat mir erzählt, du seist dabei gewesen, als Saphiras Ei auftauchte.«
»Ja.« Zum ersten Mal wurde Eragon bewusst, wie viel Kraft es sie gekostet haben musste, das Ei über die vielen Meilen hinweg fortzubewegen, die zwischen Du Weldenvarden und dem Buckel lagen. Ein solches Kunststück auch nur zu versuchen, war schon lebens-gefährlich.
Die nächsten Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. »In dem Moment, als du das Ei sahst, nahm Durza mich gefangen.« Bitterkeit lag in ihrer Stimme. »Er führte die Urgals an, die meine Gefährten Faolin und Glenwing angriffen und umbrachten. Irgendwie wusste er, wo er uns auflauern musste - sie kamen ohne Vorwarnung über uns. Ich wurde betäubt und nach Gil’ead verschleppt. Dort erhielt Durza von Galbatorix den Befehl, herauszufinden, wo ich das Ei hingeschickt hatte, und aus mir herauszuholen, wo Ellesméra liegt.«
Sie starrte eisig und mit zusammengebissenen Zähnen ins Leere. »Er versuchte es monatelang ohne Erfolg. Seine Methoden waren ... brutal. Als er mit Foltern nicht weiterkam, befahl er seinen Soldaten, mich zu vergewaltigen. Zum Glück war ich noch in der Lage, ihren Geist zu verwirren und ihnen die Manneskraft zu rauben. Am Ende befahl Galbatorix, mich nach Urû’baen zu bringen. Als ich davon erfuhr, bekam ich schreckliche Angst, denn ich hatte keine Kraft mehr, mich ihm zu widersetzen. Wärst du nicht gewesen, hätte ich binnen einer Woche vor Galbatorix gestanden.«
Eragon schauderte innerlich. Es war ihm unbegreiflich, wie sie diese Tortur hatte überleben können. Er erinnerte sich noch lebhaft an ihre Verletzungen. Leise fragte er: »Warum erzählst du mir das alles?«
»Damit du weißt, wovor du mich bewahrt hast. Glaub ja nicht, dass ich dein Eingreifen für selbstverständlich halte.«
Unsicher senkte er den Blick. »Was wirst du jetzt tun - nach Ellesméra zurückkehren?«
»Nein, noch nicht. Es gibt hier noch viel zu tun. Ich kann die Varden nicht im Stich lassen - Ajihad braucht meine Hilfe. Du bist heute in der Magie und im Schwertkampf geprüft worden. Brom war dir ein guter Lehrer. Du bist reif für die nächste Stufe deiner Ausbildung.«
»Du meinst in Ellesméra?«
»Ja.«
Eragon verspürte einen Anflug von Verdruss. Durften er und Saphira in dieser Angelegenheit denn überhaupt nicht mitreden? »Wann?«
»Das wird noch entschieden, aber bestimmt erst in ein paar Wochen. «
Zumindest lassen sie uns noch ein bisschen Zeit, dachte Eragon. Saphira fragte ihn etwas und er gab die Frage an Arya weiter: »Was haben die Zwillinge am Ende der Prüfung von mir verlangt?«
Aryas wohlgeformte Lippen verzogen sich geringschätzig. »Etwas, das sie selbst nicht bewerkstelligen können. Man kann in der alten Sprache den Namen eines Gegenstands nennen und dadurch seine wahre Gestalt heraufbeschwören. Dazu bedarf es jahrelanger Übung und größter Disziplin, aber wenn es einem gelingt, ist der Lohn die völlige Kontrolle über diesen Gegenstand. Das ist der Grund, warum man seinen wahren Namen geheim hält, denn wenn ihn jemand kennt, der böse Absichten hegt, hat er den Namensträger völlig in der Hand.«
»Es ist seltsam«, sagte Eragon kurz darauf, »aber bevor man mich in Gil’ead gefangen nahm, hatte ich in meinen Träumen Visionen von dir. Ich sah dich in deiner Zelle auf dem Bett liegen oder in der Ecke kauern. Aber immer nur, wenn ich schlief.«
Arya schürzte nachdenklich die Lippen. »Es gab Augenblicke, da bildete ich mir ein, die Gegenwart eines unsichtbaren Beobachters in meiner Zelle zu spüren, aber ich war die ganze Zeit so verwirrt und fiebrig. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der im Schlaf die Traumsicht beherrscht.«
»Ich begreife es auch nicht«, sagte Eragon und schaute auf seine Hände herab. Er drehte Broms Ring an seinem Finger. »Was bedeutet eigentlich die Tätowierung auf deiner Schulter? Es war nicht meine Absicht, aber als ich deine Wunden heilte ... Es ging nicht anders. Sie sieht genauso aus wie das Symbol auf diesem Ring.«
»Du hast einen Ring, auf dem das Yawë eingraviert ist?«, fragte sie scharf.
»Ja. Er hat Brom gehört. Siehst du?«
Er reichte ihr den Ring. Arya betrachtete den Saphir eingehend, dann sagte sie: »Dieses Geschenk erhalten nur die engsten Freunde der Elfen. Ich dachte, ein solcher Ring wäre seit Jahrhunderten niemandem mehr verliehen worden. Ich wusste gar nicht, dass Königin Islanzadi Brom so geschätzt hat.«
»Dann sollte ich ihn lieber nicht tragen«, sagte Eragon in der Annahme, er wäre vermessen.
»Nein, behalte ihn ruhig. Er wird dich schützen, wenn du zufällig anderen Elfen begegnest, und er wird dir helfen, das Wohlwollen der Königin zu gewinnen. Erzähle aber niemandem von meiner Tätowierung. Keiner soll davon wissen.«
»Gut.«
Er genoss die Unterredung mit Arya und wünschte, ihre Unterhaltung hätte länger gedauert. Nachdem sie sich getrennt hatten, schlenderte er eine Weile mit Saphira in Farthen Dûr herum. Trotz mehrmaliger Nachfrage weigerte sie sich hartnäckig, ihm zu verraten, was Arya zu ihr gesagt hatte. Schließlich kehrten seine Gedanken zu Murtagh zurück, und ihm fiel Nasuadas Bitte ein, ihn zu besuchen. Ich esse jetzt etwas und danach gehe ich zu Murtagh, sagte er. Wartest du auf mich, damit ich später mit dir zum Drachenhort zurückfliegen kann?
Natürlich, sagte Saphira, geh nur.
Mit einem dankbaren Lächeln lief Eragon nach Tronjheim zurück, nahm in der schummrigen Ecke eines Zwergenlokals eine kleine Mahlzeit zu sich und folgte danach Nasuadas Wegbeschreibung, bis er zu einer grauen Tür kam, vor der ein Mensch und ein Zwerg Wache hielten. Als er um Einlass bat, schlug der Zwerg dreimal kräftig an die Tür, dann entriegelte er sie. »Klopf einfach, wenn wir dich wieder hinauslassen sollen«, sagte er mit freundlichem Lächeln.
Die Zelle war warm und hell. In einer Ecke stand eine Waschschüssel und in einer anderen ein kleines Pult samt Schreibfedern und Tintenfass. Die Holzdecke war reich mit lackierten Schnitzarbeiten verziert und den Boden bedeckte ein flauschiger Teppich. Murtagh lag auf einem stabilen Bett und las in einer Schriftrolle. Er schaute auf und rief freudig überrascht: »Eragon! Ich hatte gehofft, du würdest mich besuchen!«
»Wie hast du denn ... Ich meine, ich dachte ... «
»Du dachtest, ich sitze in einem Rattenloch und nage an einem alten Brotkanten«, sagte Murtagh und setzte sich grinsend auf. »Das hatte ich auch erwartet, aber solange ich keinen Ärger mache, bietet mir Ajihad alle Annehmlichkeiten. Ich bekomme üppige Mahlzeiten und alles, was ich aus der Bibliothek haben möchte. Wenn ich nicht aufpasse, verwandle ich mich bald in einen dickwanstigen Bücherwurm. «
Eragon lachte und setzte sich zu Murtagh auf die Bettkante. »Bist du gar nicht wütend? Schließlich bist du noch immer ein Gefangener. «
»Na ja, anfangs war ich natürlich zornig«, sagte Murtagh achselzuckend. »Aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich hier am besten aufgehoben bin. Selbst wenn Ajihad mir die Freiheit gäbe, würde ich ja doch die meiste Zeit drinnen hocken.«
»Aber warum denn?«
»Das weißt du ganz genau. In der Nähe von Morzans Sohn wäre niemand ungezwungen, und es gibt immer Leute, die sich nicht mit bösen Blicken oder dummen Bemerkungen begnügen. Aber genug davon, ich möchte wissen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Los, erzähl schon.«
Eragon schilderte ihm die Ereignisse der letzten zwei Tage, einschließlich seiner Begegnung mit den Zwillingen in der Bibliothek. Als er fertig war, lehnte Murtagh sich nachdenklich an die Wand. »Ich nehme an«, sagte er, »dass Arya wichtiger ist, als wir beide vermutet haben. Überleg mal, was du alles über sie erfahren hast: Sie kann meisterhaft mit der Klinge umgehen, besitzt überragende magische Kräfte und - das ist am bedeutsamsten - sie wurde als Kurier für Saphiras Ei ausgewählt. Sie muss etwas ganz Besonderes sein, selbst unter den Elfen.«
Eragon war völlig seiner Meinung.
Murtagh starrte an die Decke. »Weißt du, es ist eigenartig«, sagte er, »aber ich finde diese Gefangenschaft regelrecht beruhigend. Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich keine Angst haben. Ich weiß, eigentlich sollte ich mich fürchten ... und doch fühle ich mich mit einem Mal ganz entspannt. Endlich wieder richtig ausschlafen zu können, hilft natürlich auch.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Eragon trocken. Er rückte auf eine weichere Stelle des Bettes. »Nasuada sagte, sie hätte dich besucht. Hatte sie etwas Interessantes zu berichten?«
Murtaghs Blick schweifte in die Ferne und er schüttelte den Kopf. »Nein, sie wollte mich nur kennen lernen. Sieht sie nicht aus wie eine Prinzessin? Und wie sie sich bewegt! Als sie zum ersten Mal durch die Tür kam, dachte ich, sie wäre eine der vornehmen Damen an Galbatorix’ Hof. Ich habe Grafen kennen gelernt, deren Gattinnen, verglichen mit ihr, eher in einen Schweinestall als an den Hof gepasst hätten.«
Eragon lauschte der Schwärmerei mit wachsender Sorge. Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten, sagte er sich. Vielleicht ziehe ich übereilte Schlüsse. Trotzdem wollte das ungute Gefühl nicht verschwinden. Um es abzuschütteln, fragte er: »Wie lange willst du noch hier bleiben, Murtagh? Du kannst dich doch nicht ewig verstecken. «
Der andere zuckte teilnahmslos mit den Schultern, aber seine Worte klangen wohl überlegt. »Im Augenblick bin ich ganz zufrieden, hier bleiben und mich ausruhen zu können. Ich habe keinen Grund, mir woanders Unterschlupf zu suchen oder mich von den Zwillingen malträtieren zu lassen. Bestimmt wird es mir hier irgendwann zu langweilig, aber im Augenblick ... fühle ich mich wohl.«